Lenauschüler machen Pause und eine verschwiegene Gemeinschaft singt
Am 5. Oktober 2013 spiegelten die Lichteffekte des Park Hotels am Stuttgarter Flughafen - von Ernst und Sponsoren, die anonym bleiben möchten, ausgesucht – die Abiturienten-Stimmung des Jahrgangs 1973 wider. Glamourös, wie noch nie, aber fröhlich wie immer. Wir haben viel zu erfahren über Schicksale, Pläne, Verwirklichungen und Erinnerungen sowie über uns selbst in aktueller Ausführung.
Dank an alle, die dieses Erlebnis auf den Weg gebracht haben und an alle, die direkt und indirekt dabei waren: in Gesprächen, auf Fotos, in Liedern. Abenteuerliche Ausflüge, Fahrten auf der Bega, Parties. Die bunte Lenau-Zeit feiert ein Update. So eine Schule wünschen wir für unsere Kinder und mittlerweile für die Enkelkinder auch.
Meinen ersten Schulalltag - ein banales Aufsatzthema - erwähne ich trotzdem, denn es müsste heißen: Eine Wiederholung des ersten Schultags. Nach den Winterferien gelang eine Versetzung aus der Mehala in die Lenauschule. Ich war dagegen, aber meine Eltern waren von dem Plan überzeugt und im Laufe des ersten Trimesters hat ihn die Schulbehörde genehmigt. Ein mulmiges Gefühl besserte sich etwas, als mir ein Platz zugewiesen wurde. Kaum hatte ich mich gesetzt, standen alle auf, um die „Internationale“ zu singen. Ich kannte den Text nicht, begriff aber rasch, worum es ging, denn der Unbekannte rechts von mir inszenierte die Wucht des parteilichen Gesangs mit Standbildern, die wie ein Tritt in den Hintern des anderen aussahen. In der Pause entdeckten mich Alina, Rudi und Annemarie, alte Bekannte aus dem Kindergarten, Rodica kam hinzu, sie war an Neuigkeiten hoch interessiert. Am Ende dieses Schultages verließen wir in geschlossenen Reihen das Schulhaus, wir sammelten uns vor dem Jugendstilgeländer im 2. Stock. Beim Anblick der schmiedeeisernen Ranken dachte ich mir, dass auch Dianne, meine Freundin, in der 5. Klasse da sein wird.
Unsere Lehrerin, Frau Josefine Lang, gab uns ein familiäres Miteinander mit auf den Weg. Ionuţ – er legte diesmal den weitesten Weg aus Austin Texas bis nach Stuttgart zurück – stimmte ihr Lieblingslied „Ich geh’ mit meiner Laterne“ an, damals wussten wir gar nicht, wie sympathisch das Lied war. In der 2. Klasse fuhren wir nach Bokschan und sangen „Ein Schneider fing ’ne Maus“. In der Dritten mussten wir Ada Kaleh gesehen haben, bevor die Donauinsel geflutet wurde, entschied Jotzo, die Übermutter. Diese herrlichen Tage fallen mir ein, sooft ich mich mit Alscher, der die Farben und Klänge dieser Gegend wiedergibt, beschäftige.
Wir blieben eine kompakte Klassengemeinschaft, die Schüler aus den Außenbezirken mit Freude aufnahm. Die Neuankömmlinge merkten uns ein Langsches Selbstbewusstsein an und eine unverwechselbare Art, auf andere zuzugehen, was Alfi feststellte. Zwar hasste Frau Corici jeden, der nicht perfekt Rumänisch sprach, doch unserem selbstverständlichen Miteinander konnten ihre ideologischen Phrasen nichts anhaben.
Dank Rodica kann ich nun meine Gedächtnislücken schließen: In der Sechsten stießen Celus, Erwin und Hedi aus Reschitza hinzu, Peter und Walter wurden der Parallelklasse zugeteilt, zeigten sich aber in den Pausen sehr oft, so dass ich dachte, sie wären immer in unserer Klasse gewesen. Ionuţ war nun im Katalog - und folglich bei der Abfrage in Geschichte - nach mir, was ihn stets große Beherrschung kostete; als ich, z. B. excursie mit excursiune verwechselte, schaffte er es, keine Miene zu verziehen. Johnny döste weiter, gut erholt nach der Abfrage trägt er seinen Stoff mit etlichen wissenswerten Anekdoten vor. In der Pause wurden die Ausflugs-Exkursionen des rabiaten Vlad Tepes als eine weitere Historie in Betracht gezogen.
In der 7. Klasse kam Verstärkung: mit Hartmut aus Marienfeld, ein neues pädagogisches Ziel für Corici (Diese Ausnahme bestätigt die Regel einer Top-Lehrerschaft.) und mit der „Laho-Gesellschaft“: Christl, Hertha, Günthi, Tibi und Christian. Ein „Kommunismus der Gefühle“ bildete sich heraus, wie in Heimito von Doderers „Strudelhofstiege“. Die Liebe wurde psychologisch und symbolistisch verfeinert und mit tiefem Ernst betrachtet, dazu bot die Musik harmonischen Zitate und die Bravo die richtige Einstellung. Tibi und Günthi lockerten den Ernst der Sache auf und leisteten sich Wortspiele und -gefechte mit der sittenstrengen Biologielehrerin, was zur Belustigung aller, mehr oder minder Verliebten, beitrug.
Die Schule lief wie eine Uhr. Den Ablauf des Schullebens plante der stellvertretende Direktor Rudolf May. Es war viel Spielraum für Projekte und festliche Ereignisse. Wie viel Spaß er an Ideen und Motivation hatte, merkten wir bei ihm zu Hause, als wir Christl besuchten und seine Gastfreundschaft genossen.
In der Neunten stellte sich die Jahrmarkter Fraktion ein. „Am Anfang haben wir (die „Neuen") wie in einer Parallelwelt gelebt, weil viele sich schon zum Teil seit dem Kindergarten kannten. Es war am Anfang richtig hart, ohne Eltern, ohne Freunde, komplett neue Umgebung, neue Schule, neues Zuhause. Das ist aber auch der einzige Schatten, der auf der Lenau-Zeit liegt. Aber auch das hatte seine Vorteile. Als ich dann nach Deutschland kam, hatte ich schon Übung, was ‚Integrationsbemühungen’ betrifft… Eigentlich sind wir ‚reich‘, reich an Erfahrung, Erinnerungen und Erlebnissen, auch wenn man gerne auf das eine oder andere an Erfahrung verzichtet hätte. Nur eine Anmerkung: in der Neunten kam nicht nur die Jahrmarkter Fraktion hinzu. Wir kamen aus allen Nestern aus dem Banat. Ich komme aus Neupetsch, Helga Maurer aus Guttenbrunn, Herta Lovasz aus Bakowa, usw. Also ein kunterbuntes Völkchen“, schreibt Herta.
Als wir in der elften Klasse waren, wurde die Schule mit einer Disco bereichert. Während der Bauarbeiten kamen zwei Skelette zum Vorschein, für den Hamlet – die Schule war einst ein Theater – wäre das ein überdimensioniertes Regiekonzept gewesen. Rosl Fink unsere damalige Deutschlehrerin, die wir wegen Faust so liebten, wie vorher den Herrn Lux, war Redakteurin der Lenauschülerseite und bekam mehr Einträge zu diesem Thema als abzudrucken geraten wäre. Vielleicht weiß sie mehr über den rätselhaften Fund? Vielleicht nächstes Mal … wir gratulierten ihr zum Siebzigsten!
Einem traumatisierenden System hielt eine verschwiegene Gemeinschaft stand. Herr Wilz und Herr Konrad erzählen nun, zum Anlass des Wiedersehens, von Hintergründen, die wir als Schüler niemals vermuteten. Eben deshalb gaben sie uns, wie fast alle Lehrer, ein Gefühl, dass unser Versagen bei der einen oder anderen Leistung halb so schlimm sei. Ich erinnere mich an meine Hohlspiegel, die ohne Fokus blieben, und Herr Wilz trotzdem freundlich, wenn auch ratlos hinein blickte.
„Was war zuerst? Die Idee oder die Materie?“
„Der Storch“.
„Ja, du kommst aus dem Krottenteich!“
Den Witz des Philosophieunterrichts mit Herrn Konrad griffen Harvard-Studenten (in unbewusster Rezeption!) auf: „Plato and a Platypus Walk Into A Bar“, nennt sich das zuverlässige Nachschlagewerk, das unsereins in die Lenauschule - „Mit Wein, Weib und Gesang“- Stimmung, so Direktor Erich Pfaff - zurückversetzt.
Der Hirsch im Treppenhaus, eine Pfaffsche Trophäe, mit der die Schule ebenfalls bereichert wurde, interessierte uns nicht so sehr, wir gingen an dem ausgestopften Tier meist achtlos vorbei, wichtig war die etwas höher gelegene Flower Power im Festsaal. Ich interpretierte eine essayistische Passage Herta Müllers zu diesem Treppenhaus im Rahmen des Projekts mit der Lenauschule: „Ein farendt Schüler im Schlafwagen“. Als meine Schüler wissen wollten, was die Symbolik des Singens bedeute, meinte ich das sei Realismus, sie könnten aber den Hirsch symbolisch anpacken. Es entstanden Mindmaps in einer anregenden und ansprechenden Atmosphäre. Herta Müller hat es genehmigt, diese Interpretationen samt ihrem Text auf www.verlag20.de hochzuladen.
„Gaudeamus igitur“, Hedi hat zur Sicherheit den Text mitgebracht, damit es auch vollstimmig im Park Hotel klingt. Sie war Chorleiterin und mein falsches Singen hat sie niemals nervös gemacht, was ich von der Musiklehrerin, samt ihrem sauer-mechanischen Unterricht (2. Ausnahme, die aus der Reihe der Top-Lehrer tanzt) nicht behaupten kann.
What a night! Im Retezat auf der Suche der Kabanne Curmǎtura und am Muntele Mic: sternenklar und eisig, als ein gewesener Lenauschüler mit einem Soldaten von der Militärkabanne vis-á-vis vom Dor de Munte anbandelt. Die Kabanne sei frei, wir könnten gerne übernachten, 5 Lei pro Kopf (Meritǎ! Sehr preisgünstig!) für einen Pritschen-Platz und wir verlängern die „Daciada“ bis zum Sonntag.
Nürnberg, erstes Wochenende in Deutschland, bei Marika & Co. fühlen wir uns zu Hause.
Ein Update über unser Leben nach der Lenauschule gehört zu unserem Alltag. Wenn wir das offene Ende von Atwoods “The Handmaid’s Tale“ im Kommunismus der Gefühle weiterschreiben würden, so hätte die beiden Lover Nick und Commander die Handmaid gerettet. Manche von unseren Autoren würden die Affäre zu einer echten Liebe in der Freiheit gedeihen lassen: mit Nick, mit dem Commander oder mit Nick und dem Commander als Parallelismus, je nach stilistischem Geschick. Dass Erich Pfaff bei der Securitate berichten musste, für uns aber mit dem grausigen Schatten ausspielte, war unsere Überzeugung. 40 Jahre später, nachdem Dokumente und die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller davon sprechen, dass im Büro des Direktors Schüler zum Spitzeln verpflichtet wurden, trauen wir unserem kollektiven Gefühl nicht mehr so ganz. Herr Konrad erwähnt schon bei der Begrüßung, dass er uns was von Erich mitteilen müsse. Aus dieser Mitteilung wird eine Geschichtsstunde, eine Retrospektive über eine Diplomatie, die der Securitate auswich und sie meist übertölpelte.
Eine Antwort auf Ernsts Frage: „Was hat mir die Lenauschule bedeutet?“, wäre folgend auf den Punkt gebracht: Beweglichkeit. Beweglichkeit ist laut Atwood das größte Ärgernis der Machthaber einer Dystopie. In der Lenauschule jedoch lebten wir eine Utopie in der Dystopie.
Wir sollten uns jetzt öfter treffen, nach zehn Jahren sind vielleicht nicht mehr alle dabei … „Dann geht’s erst richtig los“, sagt Helmut.
Halb so schlimm, denn in unseren Ohren klingt der von Susi angeleitete Chor zum Abschluss der Schulzeit: „Wir kommen alle, alle in den Himmel“.
Von Helga Korodi (Prokopetz-Gantner)